Rita Kuczynski

Artikel

"Ohne Traum von einer besseren Welt: Ostdeutsche haben 2005 mehr Macht übernommen" in der Berliner Zeitung am 31.12.2005

Berliner Zeitung, 31.12.2005

Die Avantgarde des Pragmatismus

Ohne Traum von einer besseren Welt: Ostdeutsche haben 2005 mehr Macht übernommen

Rita Kuczynski

Sechzehn Jahre also hat es gedauert bis die alte Bundesrepublik im neuen Deutschland angekommen ist. Willkommen auf der Baustelle. Nun gibt es eine ostdeutsche Kanzlerin Angela Merkel, CDU, einen ostdeutschen SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck und einen Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee aus Leipzig, der zugleich Beauftragter der Regierung für die neuen Bundesländer ist. Für letztere Aufgabe (Aufbau Ost) hat er von seinen etwa 1 000 Mitarbeitern aber nur 20 abgestellt. Denn "im Osten wird es erst vorangehen, wenn Deutschland insgesamt zulegt", sagte er zur Begründung seiner Entscheidung.

Die alten westdeutschen Eliten sind noch nicht einmal ins Staunen gekommen, geschweige denn zur Reflexion dessen, was da geschehen ist. Denn anscheinend reicht es nicht mehr aus, an der Universität Göttingen zu studieren oder an der Universität Heidelberg zu promovieren, um im vereinigten Deutschland eine Erfolg versprechende Politik zu machen. Man kann auch an der Technischen Hochschule Ilmenau ein Studium absolvieren oder an der Karl-Marx-Universität Leipzig Physik und an der Akademie der Wissenschaften der DDR promoviert haben. Man kann sogar Diplomingenieur für Elektrotechnik in Leipzig gewesen sein und im neuen Deutschland regieren.

Die Mehrheit der bundesdeutschen Wähler hat eine Große Koalition für das Land entschieden, in der Hoffnung, gemeinsam könnten die beiden großen Volksparteien es vielleicht eher schaffen, einen Weg aus der Dauerblockade nach vorn zu finden. Und vorn ist für diese Mehrheit heute ganz unideologisch gesprochen: raus aus der Staatsschuldenfalle. Das heißt, den Sozialstaat, der allerseits gewollt bleibt, auf die veränderte Arbeitswelt und die älter werdende Gesellschaft einzustellen, sowie die Staatsfinanzen endlich in Ordnung zu bringen, damit Gerechtigkeit zwischen den Generationen herrschen kann.

Diese Entscheidung der Wähler zu einer Großen Koalition kam an einem Punkt deutschen Reformstrebens und -redens, an dem nichts mehr zu verlieren war. Denn alle Versuche der alten westdeutschen Eliten, die Reformen zumindest in ihrer alten Bundesrepublik zu verschieben, sind an ihr Ende gelangt. Nun ist für alle, die es nicht wahrhaben wollten, offensichtlich: auch die alte Bundesrepublik - mitunter Westdeutschland genannt - existiert wirklich nicht mehr! Zwar hörte sie schon mit dem Anschluss der DDR auf, zu existieren. Nur dauerte es eine Weile, bis auch die alten bundesdeutschen Eliten das verstanden. Insofern ist der Regierungswechsel mit Angela Merkel als erste deutsche Kanzlerin eher eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte als ein Wechsel "zu Frau" und zeigt auf nicht einmal paradoxe Weise auch auf die erfolgreiche Wiedervereinigung Deutschlands.

Die alten Sätze und Gewissheiten deutschen Regierens helfen daher nicht mehr. Sie haben ihre Spannkraft verloren. Und ausgerechnet an diesem Punkt des Bruchs kommen also zwei ostdeutsche Ingenieure Platzeck, Tiefensee und eine Naturwissenschaftlerin Merkel in Partei- und Regierungsverantwortung. Alle drei haben schon einen viel größeren gesellschaftlichen Umbruch in Deutschland-Ost durchgestanden. Sie haben in Selbst-Erfahrung gelernt, dass es nicht weiter gehen kann und dann eben doch weitergeht. Mitunter sehr pragmatisch, Schritt für Schritt.

Den ideologischen Ballast aus Zeiten, da man sich in der alten Bundesrepublik den Kalten Krieg schönreden konnte, nur weil man vor dem Eisernen Vorhang saß, entfiel für Merkel als auch für Platzeck. Von sozialistischer Romantik westeuropäischer Prägung sind sie aufgrund ihrer ostdeutschen Herkunft nicht heimgesucht worden. Dafür sind Merkel, Platzeck und Tiefensee durch ihren Zwangs-Aufenthalt in der DDR gegen Ideologien und Weltverbesserungstheorien ziemlich resistent. Eine gute Voraussetzung dafür, metaphysische Sätze auf ihren praktischen Nutzen abzuklopfen. Also als Erstes zu fragen: Kann die Große Koalition sich auf eine bestimmte Aussage einigen und vor allem, kann sie diese Aussage als Vorhaben auch durchsetzen?

Wem das zu wenig scheint, sei daran erinnert, dass solch ein Pragmatismus zwar keine hinreichende, aber doch notwendige Voraussetzung ist, um als Regierung handlungsfähig zu sein. Insofern ist die neue ostdeutsche Führungscrew ein glücklicher Umstand für diese Koalition. Hinzu kommt, dass weder Merkel noch Platzeck oder Tiefensee einen umfangreichen Stab von Beratern benötigen, um zu lernen, was in der DDR los war. Angela Merkel wird Ostdeutschland daher nicht aufwändig zur Chefsache hochstilisieren, um das mit viel Luft aufgeblasene Paket anschließend in den Postausgang abzulegen, wo es sich durch Lagerschäden selbst entsorgt.

Und Matthias Platzeck als SPD-Vorsitzender hat den großen Vorteil, dass er nicht PDS-fixiert ist, wie zu viele Altbundespolitiker es vor ihm waren. Altbundespolitiker, die in der Zeit des Kalten Krieges gelernt hatten, wie man mit Parteiführern des Ostblocks spricht und daher im vereinten Deutschland an ihrer diplomatischen Routine mit der PDS - die ja nicht immer so hieß - anknüpfen konnten. Wohl auch aus solch alter Vertrautheit ließen sie sich von der PDS einreden, dass allein diese PDS die Interessen der Ostdeutschen vertreten würde. Über die große Mehrheit der ostdeutschen Wähler, die nie PDS wählten, wurde in den letzten 15 Jahren sehr wenig in den Medien gesprochen. Aber diese Mehrheit lag über 15 Jahre konstant immerhin bei mehr als drei Viertel aller ostdeutschen Wähler.

Nicht zufällig hat Platzeck gleich in seiner Antrittsrede zur Übernahme des SPD-Vorsitzes unmissverständlich gesagt, dass die PDS/Linke mitnichten die wirkliche Interessenvertreterin der Ostdeutschen ist. Denn links - so Platzeck - bedeutet Bewegung und Aufbruch, bedeutet nicht Beharrung durch den nostalgischen Blick zurück. "Wer verspricht, dass mit den Rezepten der Vergangenheit alles wieder werden könnte, wie es einmal war, der verrät in Wirklichkeit die Menschen, die er zu vertreten vorgibt."

Jedes Chaos birgt auch eine Chance. Mit Merkel, Platzeck und Tiefensee sind drei ostdeutsche Politiker in Regierungsverantwortung gekommen, die schon einmal Chaos mitbewältigt haben, den Zusammenbruch eines ganzen Landes. Auch wenn es soweit diesmal nicht kommen wird, wissen alle drei: Gebraucht werden in der großen Koalition vor allem Sachlichkeit und die Fähigkeit zum intelligenten Kompromiss. Beides haben sie in den letzten 16 Jahren lernen müssen.

Rezension zu Lothar Biskys "So viele Träume" in der Berliner Zeitung am 18.3. 2005

Berliner Zeitung, 18.3.2005

Einsicht in die Notwendigkeit

Rezension zu Lothar Bisky: So viele Träume. Mein Leben. (Rowohlt Berlin, Berlin 2005. 320 S., 19,90 Euro)

Lothar Bisky hat eine beeindruckende Autobiografie geschrieben. Beinahe idealtypisch gibt sie Auskunft über Leben und Streben eines DDR-Kommunisten. Wenn das deutsch-deutsche Gezänk irgendwann einmal abgeklungen ist, sollte sie als Schulstoff gelesen werden. Das Bestechende an dieser Biografie ist die Aufrichtigkeit, mit der Lothar Bisky sein Leben in die DDR stellt. Der Bezug ist nicht die Welt, sondern das deutsch-deutsche Planetensystem und das genügt sich bekanntlich selbst. Nur zufällig kommt da die Welt rein und stört die ansonsten eigentlich freie Entwicklung auf volkseigenem Grund.

Bisky, Sohn eines Molkereigehilfen und einer Tagelöhnerin, vertrieben aus Hinterpommern, landet als Flüchtlingskind in der Nähe von Schleswig, Gemeinde Brekendorf. Wie andere Flüchtlinge auch wird er als "armes Pack" im Dorf ausgegrenzt. Bettelarm muss er frühzeitig hart arbeiten. Als er eines Tages vor Erschöpfung im Unterricht vom Stuhl fällt, besorgt die Oberschule ihm ein Stipendium. Er schlägt das geschenkte Geld aus. Es demütigt ihn. Die Frage: Warum es Arme und Reiche gibt, beginnt ihn umzutreiben. Auf der Suche nach Antwort bricht er aus und geht in den anderen Teil Deutschlands: in die DDR. Hier will er die "neue Welt" aufbauen und "träumte von einer Gesellschaft der Chancengleichen". Er lebt sich ein, studiert in Berlin und Leipzig marxistisch-leninistische Philosophie, dann Kulturwissenschaft. Hier ist man stolz auf jedes Arbeiter- und Bauernkind. Die DDR versteht er daher als historische Hoffnung. Diese kann auch durch den Mauerbau nicht erschüttert werden.

"Den 13. August 1961", so schreibt Bisky, "habe ich von Ferne in einem Kinderferienlager zur Kenntnis genommen." Dort war er zwanzigjährig als Helfer tätig. "Wir waren so sehr mit Geländespielen und Schnitzeljagen beschäftigt, dass uns die Tragweite des Ereignisses damals kaum bewusst wurde." Später hat Bisky dann politische Zweifel über den Mauerbau allesamt vertrieben, und zwar mit der "Einsicht in die Notwendigkeit", die laut Friedrich Engels Freiheit sein soll.

Mit solch kommunistischer Tugend fürs Leben ausgestattet, hatte Bisky alle Chance in der eingemauerten DDR "sozialistischer Kader" zu werden: Bestenförderung, Karl-Marx-Stipendium, Mitarbeiter des Instituts für Jugendforschung, wo auf Grund seines persönlichen Engagements auch die Rockgruppe "Pudhys" den Preis für Unterhaltungskunst in der DDR glücklicherweise doch noch bekam.

Von weltpolitischen Ereignissen, wie dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts und der brutalen Niederschlagung der Reformbestrebungen in Prag 1968 erfährt der Leser nur, dass Biskys Rückreise aus dem Sommerurlaub in Ungarn beschwerlich war. Denn sein Zug machte aus Sicherheitsgründen eine lange Irrfahrt durch die Ukraine, bevor er, Bisky, in der DDR von Grenzsoldaten mit Brötchen begrüßt wurde. Seine Reaktion auf Prag 68 war: "Ich stürzte mich in die wissenschaftliche Arbeit. Das war", so bekennt Bisky heute, "eindeutig falsch". Mehr erfährt der Leser über eventuell aufkommende Zweifel Biskys zum Einsatz von Panzern im Prager Frühling nicht. Wahrscheinlich aus Einsicht in die bekannte Notwendigkeit eines DDR-Kommunisten, die seine Freiheit ist.

Dafür erfährt der Leser, dass Bisky 1969 zum Thema "Massenkommunikation und Jugend" promoviert. Er wird Reisekader, Abteilungsleiter im Institut für Jugendforschung, also das Übliche für einen DDR-Kader. Er erfindet die Medienwissenschaft für die DDR, definiert sich als kritischen Marxisten und redet auf internationalen Kongressen über Theorie der Medien, weil die empirischen Forschungsergebnisse seines Institutes so geheim waren, "dass sie weder auf einer nationalen, geschweige denn auf einer internationalen Konferenz mitgeteilt werden durften." Die Absurdität solcher Geheimniskrämereien beunruhigt ihn auch als Medienwissenschaftler nicht wirklich - aus Einsicht in die freie Notwendigkeit.

Irgendwann forscht er an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED über Massenmedien. Anschließend wird er Rektor der Filmhochschule. Dort erlebt er - ein wenig aufgemuntert von den Studenten, die ihn liebten - den Zusammenbruch der DDR, den er durchgängig Wende nennt, nicht Zusammenbruch oder Implosion eines wirtschaftlich und moralisch verschlissenen Systems. Nur wenn Bisky von den Akteuren dieser Wende sprich, nennt er die Wende plötzlich "friedliche Revolution." Denn so erfährt der Leser nun: "Die ,friedliche Revolution' in der DDR wurde von zwei Seiten getragen. Zum einen von den gegen die erstarrten politischen Verhältnisse kämpfenden Mitgliedern der Bürgerbewegung, den reformorientierten Mitgliedern der SED, später SED/PDS, der Blockparteien, der Gewerkschaften, des Kulturbundes, der FDJ und der Frauenbewegung. Auf der anderen Seite von denjenigen, in deren Besitz die Instrumente der Repression lagen. Dass bei so grundlegenden Veränderungen kein Tropfen Blut geflossen ist, . ist auch der Vernunft jener zu danken, die über die Waffengewalt verfügten und sie nicht angewendet haben."

Auch hier bleibt die Welt also konsequent ausgesperrt. Angefangen von der Sowjetunion, die das ihr aufgezwungene Wettrüsten nicht durchhalten konnte und die, um sich selbst zu retten, die DDR als Vorposten bereit war aufzugeben, bis hin zu dem Jahrzehnte langen Kampf um die Menschenrechte in anderen politisch etwas muntereren und mündigeren sozialistischen Ländern. Kein einziges Wort über die Charta 77, über Solidarnosc 1981, über Kriegsrecht in Polen, über die schrittweise Normalisierung des Reiseverkehrs in anderen sozialistischen Ländern. Selbst über die Grenzöffnung zu Ungarn 1989, als Voraussetzung für die Massenflucht sozialistischer Menschen, kein Wort. Der durch Mauern geschützte Sonnenstaat namens DDR speiste seine friedlichen Revolutionsenergien aus sich heraus.

Erst "als die Westparteien Partner in der DDR suchten" änderte sich das politische Reformklima, schreibt Bisky. Mit anderen Worten: Der Westen Deutschlands hat die friedliche DDR-Revolution kaputt gemacht. Das ist konsequent sonnenstaatlich gedacht. Kein Wort über die erste demokratische Wahl im März 1990 zur Volkskammer der DDR, die ein großer Erfolg der "Allianz für Deutschland" war; also dem Wahlbündnis der CDU, das 48 Prozent der Wählerstimmen bekam - während die SPD nur 21,9 und die PDS 16,4 Prozent erhielt. Erst "mit dem Grundgesetz kam das Ende der Reformen" ist der kühne logische Schluss Biskys. Den verstehe, wer will.

"Die DDR - das war mein Leben", sagt Bisky 1990 zum Tag der deutschen Einheit und fragt rhetorisch: "War mein Leben jetzt zu Ende?" In seinem Arbeitszimmer hing damals ein Filmplakat: "Alles wird gut!"

Für ihn ist vieles gut geworden. Er wurde Vorsitzender der PDS, bleibt es länger als zehn Jahre. Er trauert der DDR nicht nach. Seine ehemaligen Studenten und "seine drei Söhne haben gute Entwicklungschancen in einem weltoffenen demokratischen Land und nutzten sie."

War es etwa die Notwendigkeit zur Freiheit, die seine "Kinder" nach dem Niedergang der DDR als ihre Chance verstanden haben?

Beitrag zur Reihe Agenda 2020 in der Berliner Zeitung vom 28. Oktober 2003: Frischer Reis am alten Leninplatz

Berliner Zeitung, in der Reihe Agenda 2020 vom 28. Oktober 2003

Frischer Reis am alten Leninplatz

Rita Kuczynski

Über die Zukunft spricht hier keiner gern - jedenfalls nicht bei der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Friedrichshain. Dabei fing alles ganz harmlos an. Die Verwalterin des höchsten Hochhauses am Platz der Vereinten Nationen, der zu einer anderen Zeit Leninplatz hieß, wohnt im selben Haus, in dem auch ich seit zwei Jahren wohne. Eigentlich ist sie sonst recht entgegenkommend und zu einem gelegentlichen Schwätzchen gern bereit. Aber als ich sie diesmal im Fahrstuhl traf und sagte, dass ich mit ihr gern über die Zukunft des Hochhauses sprechen würde, winkte sie sofort ab. Das dürfe sie nicht ohne die Genehmigung ihrer Geschäftsleitung. Wir verblieben so, dass ich bei ihrer Geschäftsführung um eine solche Genehmigung nachfragen würde. Gesagt. Getan. Ich rief die Wohnungsbaugesellschaft, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit an. Ich wurde von Amt zu Amt verbunden. Nach etwa zehn Minuten hin und her schlug man mir vor, es morgen noch einmal zu versuchen. Man wollte sich erkundigen, wer für diese Frage zuständig sei. Am vierten Tag eines endlosen Hin und Her teilte man mir mit, man berate noch, wer, wenn überhaupt, mit mir sprechen könne. Meine Hausverwalterin jedenfalls sei dazu nicht befugt.

Zurückgeworfen auf mich und auf die wenigen Hinweise, die ich auf der Website der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain fand, musste ich über die Zukunft des Hauses am Platz der Vereinten Nationen, der früher Leninplatz hieß, vorerst also allein entscheiden.

Das Haus mit seinen 25 Stockwerken wird entgegen vielen Erwartungen im Jahr 2020 nicht verslumt oder gar abgerissen sein. Im Gegenteil, es wird unter Denkmalschutz stehen. Die "einst bedeutenden sozialistischen Kader", die zwischen 1970 und 1975 in die obersten Geschosse meines Hochhauses einziehen durften, eben weil sie so bedeutend waren, werden ausgezogen sein - Gott, an den die wenigsten glaubten, sei ihrer armen Seelen gnädig. Eine alte, aber keineswegs verwirrte Frau flüsterte mir dies Hausgeheimnis mal ins Ohr. Denn auch ihr wurde 1972 immerhin im 22. Stock direkt von der DDR-Regierung eine Wohnung zugewiesen. Sie sagte das nicht ohne Stolz und bedauerte mich ein wenig, dass ich 2001 nur in den 3. Stock einziehen durfte.

Die alte Frau hat nicht mehr erlebt, wie die oberen Geschosse des Hochhauses zu einem der besten Fitnessstudios der Stadt umgebaut worden sind. Auch den Swimmingpool auf dem Dach hat sie nicht mehr nutzen können. Er hätte ihr gefallen. Da die Anlage des Pools auch ein flaches Becken mit wärmerem Wasser für ältere Menschen hat, komme ich mit meinen dann nunmehr 72 Jahren noch immer in den Genuss, mein Kreislauftraining Tag für Tag absolvieren zu können, ohne das Haus verlassen zu müssen. Die Fahrstühle zum Swimmingpool sind altengerecht rekonstruiert, sodass auch gehbehinderte Mieter den flachen Pool nutzen können.

Wenn ich mich nach meinem Schwimmprogramm im Relaxcenter niedergelassen habe, stehen mir freundliche junge Frauen im Kimono zur Seite. Sie wissen, dass mein Lieblingsplatz direkt am Fenster ist. Nachdem ich mich dort auf einer der wunderbaren Tatamimatten niedergelassen habe, packen mich eben diese freundlichen Frauen in große Tücher. Ich erfreue mich dann immer wieder an dem Blick auf den Volkspark Friedrichshain. Er ist entgegen allen Unkereien schöner denn je geworden, nach dem er 2007 wegen der Grillerei beinahe vollständig abgebrannt war. Auf der verbrannten Erde ist einer der schönsten Parks in ganz Berlin entstanden. Ich habe ihn mit eigenen Augen heranwachsen sehen. Asche sei eben das beste Düngemittel, sagten schon früher die Bauern. Der Baumbestand des Parks wurde mit viel Sachkenntnis ausgesucht, sodass es heute eine Lust ist, ihn anzusehen.

Die Parkverwaltung ist eine der wenigen Einrichtungen in Berlin, die kein Problem mit ihren freiwilligen Helfern hat. Im Gegenteil, es gibt lange Warteschlangen für die Absolvierung der fünfzehn Wochenstunden gemeinnütziger Arbeit, die inzwischen alle Berliner bis zur Vollendung ihres 60. Lebensjahres zu leisten haben. Der Eintritt in den Park ist ziemlich happig, schon deshalb arbeiten so viele Berliner gern dort. Auch ich kann es mir nur selten leisten, im Park spazieren zu gehen, es sei denn, es sind mal wieder "Tage des offenen Parks" in Berlin angesagt. Aber eigentlich brauche ich diese Tage nicht so dringend wie andere. Schließlich habe ich ja das große Privileg, das Fitnessstudio des Hauses zu nutzen. Ich warte daher gern, bis mein Lieblingslaufband mit Blick zum Park frei ist. Da ich oft hier oben laufe, ist nur ein Mindestmaß an Fantasie nötig, mir einzubilden, ich liefe tatsächlich im Park.

Ich bin so froh, dass die Innenstadt Berlins bewohnbar geblieben ist. Und das ist allein ein Verdienst der Stadtverwaltung. Die Beschlüsse zum gemeinnützigen Arbeitsdienst bis hin zu den freiwilligen Wachdiensten in beinahe allen Berliner Mietshäusern hat sich wohltuend auf das Leben in der Stadt ausgewirkt.

Imelda vom Fitnessstudio beugt sich über mich und fragt mit ihrer sanften Stimme, ob ich jetzt nicht meinen Eiweißdrink mit den Multivitaminen haben möchte. Ich mag Imelda dieser Stimme wegen. Sie kommt von den Philippinen. Nachdem ich ihn getrunken habe, verabschiede ich mich von ihr. Für Tai Chi bin ich erst morgen eingeteilt.

Ich habe also noch fünf Stunden Zeit, bevor mein Dienst in der Küche des japanischen Restaurants im Souterrain des Hauses beginnt. Ich bin dort mitverantwortlich für die Zubereitung des Reises. Eine Weiterbildungsmaßnahme für ältere Arbeitnehmer, finanziert von den neuen Besitzern des Hochhauses, hat es mir ermöglicht, diese Tätigkeit nun sachgerecht auszuführen. Als eine japanische Immobilienfirma das Hochhaus 2011 von der in Konkurs gegangenen Wohnungsbaugesellschaft erworben hatte, war eine Bedingung des Berliner Senats, dass soziale Härten vermieden werden müssten, schließlich stand das Schicksal von 850 Mietern in 280 Wohnungen auf dem Spiel.Die Japaner haben ihre Zusagen gehalten. Sie haben mit allen Mietern Gespräche geführt, wer nicht ausziehen wollte und einen Mietszuschuss brauchte, konnte wie ich im Haus arbeiten. Da ich meine Wohnung mit Blick zum Park liebe, habe ich mich für die Reisküche entschieden. Und ich habe es nicht bereut, zumal ich bald merken konnte, wie gesund auch für den Kreislauf es ist, vornehmlich Reis zu essen.

Manchmal treffe ich die Frau, die früher einmal meine Verwalterin war und die keine Erlaubnis bekam, mit mir über die Zukunft des Hochhauses zu sprechen. Sie wohnt nun jenseits des Parks in einer kleinen Gemeinschaftswohnung. Zweimal die Woche kommt sie durch den Hintereingang der Küche ins Restaurant und holt in großen Schüsseln Reis. Denn darauf legt der Restaurantbesitzer größten Wert, dass der angerichtete Reis, der unseren Gästen serviert wird, stets frisch zu sein hat.

Reaktion auf Helmut Schmidt,SPD, in Frankfurter Rundschau vom 16. Oktober 2003

Frankfurter Rundschau, 16.10.2003

"Was denn für eine Krise?"

Die Äußerungen des Altkanzlers Helmut Schmidt (SPD) in der "Sächsischen Zeitung" Anfang der Woche riefen starken Widerspruch hervor. Schmidt hatte ostdeutsche Rentner und deren "Weinerlichkeit" kritisiert. " Zum Kotzen" sei das Lamento über zu niedrige Renten, zumal die Bezüge ostdeutscher Frauen teilweise höher lägen als die der Frauen im Westen. "Vieles wird beklagt, was nicht beklagenswert ist," kommentierte Schmidt. Die Schriftstellerin Rita Kuczynski kam bei einer Befragung in den Neuen Ländern zu einem gegenteiligen Ergebnis: Ostdeutsche sind gelassener, krisenfester und vor allem reformerfahrener als die Brüder und Schwestern im Westen.

Von Rita Kuczynski erschien zuletzt der Band "Im Westen was Neues?" im Berliner Parthas Verlag.

Über das, was Helmut Schmidt "zum Kotzen" findet: Jammern die Ostdeutschen doch mehr?

Von Rita Kuczynski

Von wegen weinerlich: Verhindert nicht westdeutsche Bräsigkeit Reformen im Osten? Dort weiß man wenigstens, was "Krise" bedeutet. (Biskup)

Es gibt wahrscheinlich - Altbundeskanzler Helmut Schmidt zum Trotz - unter den Ostdeutschen nicht mehr Weinerlichkeit als unter den Westdeutschen. Denn: Weinerlichkeit ist eine gesamtdeutsche, also nationale Eigenschaft. Denkt man daher an die so dringenden Reformen Deutschlands in der Nacht, wird man kaum um den Schlaf gebracht. Man könnte angesichts der Besitzstände in Ost- und Westdeutschland selbst im Halbschlaf noch Wetten abschließen, in welchem Teil Deutschlands die Weinerlichkeit momentan größer ist: in den alten oder den neuen Bundesländern?

Im Wachzustand könnten ein paar Aussagen zur Entscheidungsfindung beitragen. Vor kurzem habe ich, zwar nicht mit "den Ostdeutschen", sondern nur mit zwanzig, sehr lebendigen Personen aus den neuen Bundesländern Interviews gemacht. Das Kriterium der Auswahl war, dass die Befragten von sich aus sagten, sie hätten die Einheit Deutschlands für sich persönlich als eine große Chance erlebt: Die dazu gewonnenen Freiheiten waren für sie ein großer Gewinn, ihr Leben endlich noch einmal selbst in die Hand zu nehmen. Während dieser Interviews habe ich allen auch die Frage gestellt: "Sehen Sie der augenblicklichen Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik eher gelassen oder eher ängstlich entgegen?"

Es erstaunt hoffentlich nicht, dass keiner der Befragten in Tränen ausbrach. Es gibt vielleicht zu denken, dass einige Gesprächspartner bei der Frage nach der Krise in Deutschland sogar auflachten und zurück gefragt haben: "Was denn für eine Krise? Da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt. Zum Beispiel den Umbruch 1989. Da war wirklich alles offen, nicht nur der Arbeitsplatz, da wurde erst einmal alles aufgelöst. Das war eine wirkliche Krise. Aber jetzt? Das ist doch alles nicht so dramatisch. Mir kann nicht viel weggenommen werden. Ich werde mit wenig Geld auskommen müssen. Das macht auch erfinderisch. () Aber ich sehe der augenblicklichen Krise in der Bundesrepublik mit Spannung entgegen. Denn jetzt wird sich zeigen, ob die neue, die gesamtdeutsche Republik eine Krise auch bewältigen kann. Es ist doch eine westdeutsche Mentalität, keine großen Veränderungen zu wollen. () Heute, nach fünfzig Jahren, werden erstmalig die Selbstverständlichkeiten der alten Bundesrepublik in Frage gestellt. Die westdeutschen Politiker heute sind fast alle nach dem Krieg geboren. Sie sind die Wohlstandskinder der Bundesrepublik. Sie haben nie wirklich harte Zeiten erlebt und keine der beiden deutschen Diktaturen. Ihr Gestaltungswille formiert sich auf bundesdeutschem Wohlstand." (Christina, Mathematikerin)

Kritisch, distanziert, mitunter auch ein wenig spöttisch, äußern sich die Gesprächspartner insbesondere über die Furcht der Verelendung ihrer westdeutschen Mitbürger: "Die Westdeutschen werden auf ihre Besitzstände, Häuser und dergleichen halt eine Vermögenssteuer zahlen. Mein Gott, tragisch ist das nicht, meine ich. Die Ostdeutschen trifft das nicht. Sie haben meist nichts. Sie erben nur selten und haben keine großen Renten. Sie müssen also auch keine Erbschaftssteuer zahlen." (Tanja, Studentin)

Einige der Befragten gehen in ihrer Antwort auf die Frage nach der Gelassenheit oder Ängstlichkeit gegenüber der augenblicklichen Wirtschaftskrise in Deutschland noch einen Schritt weiter und fürchten eher, um die Reformfähigkeit unter den Westdeutschen.

Vielleicht können die Westdeutschen von den Ostdeutschen lernen

Denn da gibt es, wie Alexander, ein Bankangestellter zu sagen weiß, eklatante Unterschiede zwischen den Belegschaften in den alten und denen der neuen Bundesländer. Unsere Angestellten sagte er, "haben in den letzten dreizehn Jahren sehr viele Veränderungen im politischen Umfeld und auch im Unternehmen erlebt. Es gab gerade in den neuen Bundesländern einen großen Umstrukturierungsprozess. Wenn zum Beispiel Personal abgebaut werden musste, verstehen unsere Mitarbeiter damit besser umzugehen, als die Mitarbeiter in den alten Bundesländern. Unsere Mitarbeiter sind veränderungsfähiger und auch -williger. Ich höre von Kollegen immer wieder, dass es in den alten Bundesländern sehr viel mühseliger ist, die Leute zu Veränderungen zu bewegen, weil sie schon 30 oder 40 Jahre an ein und demselben Platz sitzen und den gleichen Job machen. Wenn ich dagegen mein Team ansehe, gibt es niemanden, der vor fünf Jahren den Job machte, den er heute macht.

Er hat in den zehn bis dreizehn Jahren, die er bei der Bank ist, mindestens drei bis vier Veränderungen mitgemacht. Mit neuen Aufgabenfeldern kann er daher besser umgehen als jemand aus den alten Bundesländern, der vor 30 oder 40 Jahren nichts anderes gemacht hat, als er heute macht. Das heißt nicht, dass den Leuten bei uns Veränderungen nicht auch Angst machen"

Kann es sein, dass der mangelnde Gestaltungswille- beziehungsweise die Unfähigkeit vieler Altbundesbürger, die nicht mehr aufschiebbaren Reformen in Deutschland zu akzeptieren, inzwischen die Reformen in den neuen Bundesländern behindern?

Auf jeden Fall ist es an der Zeit, im Westen das Trugbild und Klischee über "die Ostdeutschen" aufzugeben. Dann könnte die dringend notwendige gesamtdeutsche Debatte über die Zukunft wirklich beginnen. Es würde den Bedürfnissen der Gegenwart entgegenkommen, wenn "die Ostdeutschen" nicht mehr als das, vielen Altbundesbürgern so lieb gewonnene Phantom des weinerlichen, immer jammernden, wenn auch gutmütigen, ostdeutschen Wesens wahrgenommen würden. Sondern, wenn sie als Neubürger akzeptiert würden, die in den letzten dreizehn Jahren mehr an gesellschaftlichem Umbruch und auch Brüchen zu bewältigen hatten, als alle Altbundesbürger zusammen in den letzten fünfzig Jahren.

Es könnte nämlich durchaus sein, dass die Ostdeutschen einiges aus ihren Erfahrungen im Umgang mit Brüchen und Umbrüchen in die Zukunft der Bundesrepublik einbringen könnten, das zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise in Deutschland beiträgt. Vielleicht können die Westdeutschen von den Erfahrungen der Ostdeutschen lernen, dass die Aufgabe jahrzehntelang gehegter Gewohnheiten und sozialer Sicherheiten auch ein Gewinn sein kann?

Dann könnten die Zensuren für deutsche Weinerlichkeit neu verteilt werden. Dabei könnte herauskommen, dass es unter den Westdeutschen wahrscheinlich nicht mehr Weinerlichkeit gibt, als unter den Ostdeutschen. Käme es daher zu einem Länderspiel in Sachen Weinerlichkeit, würde es beiderseits wahrscheinlich nur Sieger geben.